Der volle Klang - oder Wie DU Katze den Sprung schaffst

Seit ein paar Tagen nehme ich wieder Gesangsunterricht. Meine Freundin und Lehrerin Marie tauchte mich sofort in eine spannende Aufgabe: Die müheloseste "Einstellung" von Kiefer, Zungengrund, Gesicht und Körperhaltung zu finden. Die Ausrichtung, in der die Stimme frei und ungehindert schwingen und den ganzen Körper als Resonanzraum nutzen kann.

 

Wer mich kennt und Tanzkörpertraining seit einer Weile verfolgt, weiß jetzt vermutlich schon, warum die Aufgabe mich sofort "gekriegt" hat...

Schließlich ging es in den Jahren der Recherche nach einer für mich und andere stimmigen Yoga- und Übungsform genau darum:

Mühelosigkeit zu finden. Spannung loszulassen anstatt Spannung aufzubauen. Dazu die Körperwahrnehmung zu nutzen (wie in der Feldenkrais Methode) , aber auch Imaginationsarbeit (wie in der Franklin Methode). Alles kombiniert mit dem langen, tiefen, Atem, der unser Körper-Geist-System in einen entspannten, wachen und aufnahmefähigen Zustand bringt (Stichworte: Stressabbau/ parasympatisches Nervensystem).

Eigentlich logisch, dass die selben Prinzipien auch im Gesang greifen - schließlich arbeitet auch da "nur" der Körper, ohne Einsatz zusätzlicher Instrumente oder Verstärkungen.

Vor 15 Jahren hätte ich in der Selbsteinschätzung vorangegangener Gesangübungen vermutlich immer daneben gelegen. Ich dachte damals, viel hilft viel, und besser ist der Ablauf, bei dem ich nicht mehr anstrenge oder den ich intensiver spüre. Im Tanz entsprach das der Wiederholung, bei der ich "alles gegeben" und mich sehr angestrengt habe, mit zusammengebissenen Zähnen. Auf die Frage "welche Tonabfolge war besser?" hätte ich die "konzentriertere", ehrgeizigere Variante gewählt und vermutet, dass dabei auch der vollere Klang entsteht.

Und nun? Das Gegenteil ist der Fall! Voller, runder und kraftvoller klingt der Moment, wenn alles zusammenschwingt. Wenn man von der Anstrengung fast nichts merkt. Wenn keine Muskelgruppe gegen die andere arbeitet und sie beim Mit-Schwingen stört. "Such die leichteste Variante" - mein feldenkrais-inspiriertes Mantra - funktioniert auch hier! Und mittlerweile wage ich zu behaupten, dass es ÜBERALL im Leben gilt.

Der Weg in die Mühelosigkeit...

...ist immer der gleiche:

  1. überflüssige Spannung loslassen
  2. schauen, was es wirklich braucht
  3. den Rest ruhen und entspannt mitgehen lassen
  4. dadurch die eigene Kraft nicht am Entfalten hindern

"Such den leichtesten Weg" klingt paradox für unsere durch Disziplin und "du musst dich nur mehr anstrengen" geprägten Hirne. Aber wenn wir in die Natur schauen, greift das Prinzip überall: Eine Katze schafft den Sprung auf die hohe Mauer nicht, weil sie vorher denkt, "ich muss mich nur genug anstrengen", 2 Tage lang plant und vorsorglich alle Muskeln anspannt (in einigen Yogastilen üblich: "spann deinen Oberschenkel an und dann verlagere das Gewicht…"). Im Gegenteil: Sie würde dann vermutlich nie auf die Mauer kommen. Stattdessen startet sie in einer für sie entspannten Grundhaltung, setzt an (lockere Bewegung in die Gegenrichtung, als würde sie sich ducken), baut genau das Maß an Spannung auf, das sie braucht, um AUF der Mauer zu landen (und nicht etwa DAHINTER ;) ), schnellt los (alles darf mitkommen)… und spaziert hinterher locker und elegant weiter ;).

Der Katze helfen zweieinhalb 

Prinzipien:

1. Ganz bei der Sache und emotional auf das Ziel eingestellt sein
Ganz - d.h. kein Teil von ihr zögert, verkrampft sich oder will eigentlich lieber woanders hin. (Im Gesang: Der ganze Körper dient als Resonanzraum.)
Und emotional auf das Ziel eingestellt - nicht im Sinne von "angestrengt wollen", sondern im Sinne von ungeteilter Aufmerksamkeit ("ich will da hoch"), ohne dass Gedanken und Emotionen sich in Zweifel verstricken.
2. es ausprobiert haben. Schritt für Schritt, da wo man ist.

Eins nach dem andern. Kleine Katze - kleiner Sprung, Katze mit mehr Sprungerfahrung - großer Sprung. * Mit der Zeit immer vollere Töne erzeugen, immer müheloser tänzerische "Linien im Raum" erzeugen. Zeit geben statt Hauruck.
2b. beim Ausprobieren keine Angst vor Fehlern
Kleine Katzen fallen öfter mal irgendwo runter. Sie retten sich oder fallen auf die Füße und verletzen sich selten, weil sie nicht steif und angespannt sind.

Ich muss gestehen: Ich war mein Leben lang einer der größten Angsthasen, was Handstände und andere "verrückte Haltungen" und Bewegungsabläufe anging. Immer noch brauche ich bei körperlich ungewohnten Dingen lange, bis ich das Gefühl habe, sie wirklich zu meistern. (Das Tolle daran: wenn es jemand auch dem größten Angsthasen beibringen kann, dann ich ;) ).

Meine wichtigste Erkenntnis aus den Jahren intensiven Tanz- und Bewegungstrainings:

Wann immer ich etwas lange nicht hinbekam, lag das weder an Faulheit noch an geringer Ambition. Auch nicht daran, dass mein Körper "so limitiert" war - wie manch wohlmeinender Tanzlehrer sagte.
 
Es lag an Angst. Angst vor dem Fallen. Angst vor Blamage. Als Verbissenheit getarnte Angst ("Ich weiß genau, wie es sein muss." Heißt oft: "Wenn es nicht genau so klappt… daran wage ich gar nicht zu denken, weil sich sonst Panik breit macht."). 

Angst - oder ihre "stärker" daherkommenden Verkleidungen wie z.B. Verbissenheit, Kontrolle und übermäßige Anstrengung sind das, was uns am häufigsten im Wege steht beim mühelosen Erreichen unserer Ziele. Sie hindern uns am Loslassen.

Angst und übermäßige Kontrolle führen zu einer erhöhten muskulären Grundspannung. Eine Muskelgrupe arbeitet gegen die andere (nicht ganz).
Auch geistig kämpfen zwei Strömungen gegeneinander: Ehrgeiz gegen Vorsicht (nicht emotional bei der Sache).
Das Wollen und das Zurückhalten behindern sich gegenseitig am "Schwingen". Am Ende bewegt sich gar nichts mehr.

Mit unnötiger Anspannung erreichen wir schlimmstenfalls NICHTS trotz höchster Anstrengung und Verausgabung.

Das Gegenteil ist, was wir wollen und wofür wir gemacht sind: Viel erreichen mit geringstmöglicher Anstrengung!**
Kraft entwickeln wie die Stimme, die frei und ungehindert schwingen und sich entfalten kann. Die sich nicht gedrückt und gepresst anhört, sondern voll und rund wie eine große Glocke.

 

Und wie erreichen wir das, wenn sich die Anspannung doch immer wieder gewohnheitsmäßig breit macht? Dazu schreibe ich mehr im nächsten Blogpost! Bis dahin eine kleine "Hausaufgabe", die du ausprobieren kannst, wenn du Lust hast:

  • Nimm dir in den kommenden Tagen immer mal wieder einen Moment, um dein Anspannungslevel zu "scannen". (Wenn du es sonst vergisst, stell dir 3-4mal täglich eine Erinnerung auf dem Handy ein.) -> Wie fühlt sich dein Nacken an, dein Kiefer, wie locker kann deine Zunge sein?

  • Wenn du Anspannung merkst, nimm sie einfach erstmal wahr. Wie fühlt sie sich an? Welcher Gedanke löst sie aus oder macht sie stärker? (Es ist nur ein Gedanke.)

  • Wiederhole dir, wann immer du daran denkst "Es gibt kein Richtig und kein Falsch!" Was für Impulse und evt. Gegen-Gedanken löst das aus? (auch hier: Es gibt keine richtigen und kein falschen Gedanken ;)!)

  • Stell dir vor, dass die Muskeln dort, wo die Anspannung am stärksten ist, aber auch in den umliegenden Bereichen, schmelzen - wie warme Schokolade in der Sonne.

 

Ich wünsche dir frei schwingende, mühelos kraftvolle Momente und freue mich über deine Erfahrungen und Kommentare!
Marita

* Für Menschen wird dieses Prinzip z.B. in der Hengstenberg Methode sehr konsequent umgesetzt. Dabei werden vielseitig einsetzbare, kombinierbare Spielmaterialien von Balance-Holz bis Bewegungsparcours gegeben und jedes Kind experimentiert damit in seiner Weise, ohne Vorgaben.
** wohlgemerkt nicht OHNE Anstrengung. Aber nur mit dem, was es braucht. Nicht mehr.

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